Debattenbeitrag: Sollte nach den Geschehnissen um Tag X über die Einstellung der Kooperation mit der Versammlungsbehörde nachgedacht werden?

Nach unserem Kenntnisstand wurden im Zeitraum vom 31. Mai 2023 bis zum 4. Juni 2023 mindestens elf Versammlungen verboten, verunmöglicht oder mit massiver Repression überzogen. Für uns stellt sich nach dieser Woche die Frage, ob es noch angebracht ist, Versammlungen anzuzeigen und Kooperationsgespräche mit der Versammlungsbehörde oder der
Polizeidirektion Leipzig zu führen. Wir wollen uns mit diesem Beitrag in die laufende Debatte einbringen und weisen darauf hin, dass wir selbst noch nicht abschließend zu einer Entscheidung gekommen sind.

Warum stellen wir diese Frage?

Seit vielen Jahren organisieren und unterstützen wir Versammlungen oder beteiligen uns an ihnen. Im Jahr 2020 organisierten wir unsere letzte größere Demonstration in Gedenken an Todesopfer rechter Gewalt[⁴]. Nach unseren vielfältigen Erfahrungen aus den vorangegangenen Jahren haben wir der Versammlungsbehörde der Stadt Leipzig im Voraus eine ausführliche Mail geschrieben. Inhalte dieser waren das Auftreten von Versammlungsbehörde und Polizei auf unseren Gedenkveranstaltungen in den zurückliegenden zehn Jahren. Die Kernpunkte unserer Kommunikation waren folgende:

• Unsere Versammlungen sind in den vergangenen Jahren sicherlich kaum mit Eskalationspotenzial aufgefallen. Unser Ziel war es, stets ein würdiges Gedenken zu ermöglichen. Dennoch war das polizeiliche Aufgebot, besonders in Anbetracht des Anlasses und den Erfahrungen mit unseren Veranstaltungen, unangemessen hoch.

• Der staatliche Umgang mit den Angehörigen von Kamal K. war während der Ermittlungen zum rassistischen Mord und dem Gerichtsprozess, aber auch während der Gedenkveranstaltungen, teilweise von rassistischen und respektlosen Verhalten durch die eingesetzten Polizeibeamt*innen geprägt.

• Gegen einen Angehörigen wurde Anzeige erstattet, nachdem er in einem Redebeitrag die ermittelnden Behörden öffentlich krisitiert hatte.

• Über die Jahre ist uns aufgefallen, dass die Versammlungsbehörde und die Polizei ihrer Aufgabe der Absicherung von Demonstrationen trotz eines massiven Aufgebots nicht nach kam. So waren Kreuzungen entlang der Routen nicht abgesperrt, obwohl bekannt ist, dass rechte Täter*innen Fahrzeuge vemehrt als Waffe einsetzen, indem sie mit diesen in antirassistische und linke Demonstrationen fahren. Dies sollte letztes Jahr auch in Leipzig bittere Realität werden. [1] [2] [3]

Nach der Aufzählung unserer Kritikpunkte, welche sich hauptsächlich auf Polizei und Ermittlungsbehörden bezogen, formulierten wir die Bitte an die Versammlungsbehörde, in den aufgezählten Punkten Einfluss auf die Einsatzleitung zu nehmen. Nur so könne, trotz der Einstellungen in der Polizeidirektion Leipzig gegenüber linken Versammlungen, der Schutz von  Versammlungen vor möglichen Angriffen von außen und ein angemessenes Auftreten bei Gedenkveranstaltungen gewährleistet werden. Statt auf unsere Initiative zur Kommunikation einzugehen, wurde unsere E-Mail ohne vorherige Rücksprache an die Polizeidirektion weiter gegeben.

Zu einem weiterem Bruch kam es am 23. Oktober 2021 bei unserer Gedenkkundgebung für Achmed B. Diese durfte damals nur von 100 Menschen besucht werden, wurde zeitlich von den Behörden vorverlegt und auch in weiterer Form beschränkt. Warum? Am selben Tag sollte eine Demonstration stattfinden, die verboten wurde und unsere Gedenkkundgebung – so die Konstruktion der Behörden – könnte einen möglichen Ausgangspunkt für „Ersatzveranstaltungen“ darstellen. Vor Ort war unser Gedenken von einem massiven Polizeiaufgebot umgeben und Menschen wurden vor und nach der Kundgebung teilweise gekesselt und kontrolliert – auch hier ermöglicht durch einen weitläufigen Kontrollbereich. Hier zeichnete sich bereits das Bild ab, welches sich zwei Jahre später in einem noch umfangreicheren Maße wiederholen sollte: In der Woche der Urteilsverkündung des Antifa Ost-Verfahrens.

Warum die Kooperation mit Behörden in Frage stellen?

Die Aufgabe der Versammlungsbehörde ist es, die Versammlungsfreiheit zu gewährleisten. Das Gegenteil zeichnet sich ab. Absurde Auflagenbescheide haben in Leipzig eine lange Geschichte. Sei es ein „Renn -und Hüpf-Verbot“, welches mit einem Vorfall in NRW begründet wurde, bei dem im Zuge einer nicht angemeldeten Versammlung eine Passant*in umgestoßen worden sein soll. Demonstrationen am Loslaufen zu hindern, weil die Teilnehmer*innenzahl angeblich zu hoch sei, ist allerdings eine neue, mehr als besorgniserregene Entwicklung. Grundsätzlich müssen wir beobachten, dass unsere Veranstaltungen regelmäßig mit Auflagen bedacht werden, weil auf Demonstrationen von anderen Veranstalter*innen dieses oder jenes passiert sein soll.

In irgendwelchen „Prognosen“ wird unterstellt, dass Teilnehmer*innen dieser auch bei unseren Versammlungen dabei sein könnten. Unabhängig von der spezifischen Veranstaltung soll jede Eventualität in den Auflagenbescheiden abgebildet werden. Dies steht der eigentlichen Kernaufgabe einer Versammlungsbehörde, nämlich Versammlungen zu ermöglichen, diametral gegenüber. In diesem Sinne sehen wir auch keine Verbesserung für die Absicherung von Veranstaltungen durch die Polizei, sondern beobachten vielmehr, dass diese sich primär um das Durchsetzen beliebiger Auflagen kümmert.

In der Woche der Urteilsverkündung konnten wir sehen, wie die Versammlungs-und Meinungsfreiheit in Leipzig für eine Woche de facto außer Kraft gesetzt wurde. Es waren Tage voller Repression und Erniedrigung.
Veranstalter*innen wurden getäuscht, politische Äußerungen zum Urteil systematisch unterbunden und die Öffentlichkeit im Kontext zum Kessel und drum herum bis heute belogen.
Wie soll auf diese Ereignisse noch eine Kooperation mit Behördenvertreter*innen in Leipzig möglich sein? Wieso sollten sich das zukünftig noch Menschen antun? Letztendlich müssen sie immer damit rechnen, getäuscht und dass ihre Veranstaltungen mit massiver Repression überzogen werden. Nur am Rande erwähnt sei, dass wir diese massive Form der Kriminalisierung bei Versammlungen der extremen Rechten in Sachsen nicht beobachten können. Hier finden seit mehreren Jahren regelmäßig unangemeldete Demos statt, ohne jegliche behördliche Begleitung.

Was tun?

Vielleicht ist die notwendige Konsequenz aus diesen Tagen, die Kooperation mit den Behörden einzustellen und Versammlungen nicht mehr anzumelden. Sicherlich wird dies mit weiterer Repression vor Ort beantwortet werden, aber ist das nicht mittlerweile auch bei angemeldeten Versammlungen mit vorangegangenen Kooperationsgesprächen gängige Praxis in Leipzig? Willkürliche Auflagen, absurde „Gefahrenprognosen“ gestützt auf anonyme Texte im Internet oder Posts auf social media, absurde Verfahren gegen Teilnehmer*innen, beliebige Auflagen und weitere Einschränkungen sind doch bereits üblich. Hinzu kommen extrem rechte Streamer, die im Zusammenspiel mit den Behörden neue Formen der Repression gegen Versammlungen ermöglichen.

Es gibt Städte in Deutschland, in denen ein anderer Umgang mit den Behörden praktiziert wird. Dies bedeutet: Keine Kooperationsgespräche, wie z. B. in Freiburg oder regelmäßige Demonstrationen, die ohne Anmeldungen laufen, wie der 1. Mai in Wuppertal oder die Demos in Gedenken an Conny in Göttingen. Auch in Leipzig gab es schon Demonstrationen ohne Anmeldung und Kooperationsgespräche bei denen sich die Behörden auf die Regelung des Verkehrs beschränkten.

Wieso sollte dies nicht zukünftig hier möglich sein?
Vielleicht sollten wir es wagen?


[1] https://www.chronikle.org/ereignis/angriffe-kontext-black-lives-matter-demo
[2] https://taz.de/Vorfall-nach-einer-AfD-Veranstaltung/!5719987
[3] https://kreuzer-leipzig.de/2022/12/29/auto-als-waffe
[4] https://www.rassismus-toetet-leipzig.org/index.php/sammlung-zur-demonstration-am-24-10-2020/